Den folgende Beitrag habe ich für die Europa-Nachrichten Nr. 7 des Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) verfasst. Der Beitrag ist auch hier abrufbar.
«Europa, näher» unter dieses Motto stellt Spanien seine fünfte EU-Ratspräsidentschaft und rückt
damit die europäischen Werte in den Mittelpunkt. Das Motto betont die Bedeutung enger
europäischer Zusammenarbeit und vertiefter Integration und greift damit eine zentrale Lehre der
europäischen Krisenbewältigung auf: Nur ein gemeinsames und europäisch abgestimmtes Vorgehen
erzeugt nachhaltige Wirkung. Eine Lehre, die sich in der COVID-19-Pandemie bewahrheitet hat und
sich auch auf die Klimakrise übertragen lässt. Denn weder Pandemien noch die Folgen des
Klimawandels stoppen an den Grenzen von Nationalstaaten. Der Umgang mit diesen Krisen kann
deshalb nur grenzüberschreitend erfolgen, mit gemeinsamen Kraftanstrengungen und gebündelter
europäischer Expertise.
Europäische Solidarität in Krisenzeiten: Erfahrungen aus der COVID-19-Pandemie
Zuletzt hat die COVID-19-Pandemie gezeigt, zu welchen wirkungsmächtigen Entscheidungen die
Europäische Union (EU) in der Lage sein kann, wenn sie zusammensteht. Während noch zu Beginn der
Pandemie nationale Alleingänge in Form von unkoordinierten Grenzschließungen oder
Exportverboten für Schutzausrüstungen und kritische medizinische Güter der Solidarität innerhalb der
EU stark geschadet haben, konnte ein «Impfstoffnationalismus» zwischen den Mitgliedstaaten
vermieden werden. Zentral für das wirkungsvolle Agieren bei der Impfstoffbeschaffung war Art. 122
des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Der Artikel appelliert an die
Mitgliedstaaten in Krisen «im Geiste der Solidarität zu agieren» und ermöglicht unter anderem
schnelle Entscheidungsfindungen durch Mehrheitsentscheidungen.
Diese sogenannte «Notfallklausel» erlaubt der EU zudem finanzielle Unterstützung zur Bewältigung
außergewöhnlicher Ereignisse zu gewähren. In der COVID-19-Pandemie ermöglichte diese
Bestimmung der EU, die sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie in den Mitgliedstaaten
abzumildern. So wurde, basierend auf dem Grundsatz der europäischen Solidarität, unter anderem
das Kurzarbeitsgeld-Programm SURE eingeführt. Dessen 100 Mrd. Euro haben dazu beigetragen, die
sozialen und ökonomischen Folgen der Krise in den Mitgliedstaaten zu begrenzen und die
Arbeitslosigkeit während des Gesundheitsnotstands einzudämmen. Das war ein wichtiger Schritt.
Doch neben der Aussetzung der budgetären Restriktionen des Stabilitäts- und Wachstumspakts war
die Schaffung des Wiederaufbaufonds NextGenerationEU für die Jahre 2021-2027 die bisher
entschiedenste Krisenreaktion der EU.
Das Aufbauinstrument NextGenerationEU und sein Herzstück, die knapp €724 Mrd. Euro umfassende
Aufbau- und Resilienzfazilität, hat es den Mitgliedstaaten ermöglicht, Zukunftsinvestitionen zur
Abmilderung und Überwindung der durch die Pandemie ausgelösten tiefen wirtschaftlichen und
sozialen Verwerfungen zu tätigen. Finanziert wird der Wiederaufbaufonds gemeinsam durch Mittel,
die die Kommission im Namen der EU an den Kapitalmärkten aufnimmt. Die Auszahlungen erfolgen
auf Grundlage von Wiederaufbauplänen, die die Mitgliedstaaten bei der Kommission einreichen, von
dieser geprüft und vom Rat genehmigt werden. Die Mittel werden sowohl als Kredite als auch als nicht
zurückzuzahlende Zuschüsse vergeben. Damit ermöglicht NextGenerationEU den Mitgliedstaaten,
sich gemeinsam von den Auswirkungen der Pandemie zu erholen und durch Zukunftsinvestitionen
Impulse für benötigte sozial-ökologische Transformationsprozesse zu setzen. Dieses solidarische
finanzpolitische Krisenmanagement unterscheidet sich stark von der Bewältigung der Eurokrise, die
die Mitgliedstaaten vorrangig alleine bewältigen sollten und bei der Austeritätsmaßnahmen im
Vordergrund standen. Aus diesen Fehlern hat die EU gelernt und mit NextGenerationEU unter Beweis
gestellt: Solidarische Wirtschafts- und Finanzinstrumente sind keine Utopie. Dieses Momentum muss
nun genutzt werden.
Solidarische Integrationsfortschritte verstetigen
Jean Monnet prägte einst die These: «Europa wird in Krisen geschmiedet, und es wird die Summe der
zur Bewältigung dieser Krisen verabschiedeten Lösungen sein». SURE und NextGenerationEU haben
die EU näher zusammengerückt und zu einem sozialeren Europa gemacht. Doch damit beide
Instrumente tatsächlich strukturbildenden Charakter entwickeln, müssen aus meiner Sicht diese
Integrationsfortschritte verstetigt werden.
Um die notwendige Steigerung öffentlicher Investitionen in europäische Schlüsselbereiche zu
gewährleisten und aktuelle Herausforderungen im Bereich Klima, Energie und Digitalisierung
solidarisch zu meistern, braucht es eine Stärkung der Einnahmenseite. Die Debatte über neue
Eigenmittel muss deshalb in den kommenden Monaten weiter forciert werden, wie es die spanische
Ratspräsidentschaft angekündigt hat. Sie hat sich ebenfalls zu Ziel gesetzt, die Festlegung
gemeinsamer Mindeststandards für die Unternehmensbesteuerung in allen Mitgliedstaaten
voranzutreiben und die Steuervermeidung durch große multinationale Unternehmen stärker zu
bekämpfen. Dies würde die Finanzkraft der Mitgliedstaaten stärken und könnte einen Beitrag dazu
leisten, die Finanzierung der EU dauerhaft gerechter und eigenständiger zu gestalten.
Zusätzlich brauchen wir ein vereinfachtes, flexibleres und gleichzeitig verbindlicheres Rahmenwerk für
die wirtschafts- und finanzpolitische Koordinierung. Das heißt, auf die individuelle Situation der
Mitgliedstaaten zugeschnittene haushaltspolitische Anpassungspfade in Form mehrjähriger
Ausgabenziele, die mit einheitlich greifenden Korrekturmechanismen zu kombinieren sind, sollten
gemeinsam vereinbarte Zielvorgaben verfehlen werden. Um die künftigen Regeln verbindlicher und
attraktiver zu machen, könnten meiner Meinung nach außerdem die notwendigen Reformen und
fiskalischen Anpassungen mit Anreizen durch einen europäischen Investitionsfonds verbunden
werden.
Stand jetzt werden die ausgesetzten Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts ab 2024 wieder
in Kraft treten, und damit wieder starre Grenzwerte für die Staatsverschuldung der Mitgliedstaaten
gelten. In Konsequenz würde das für viele Mitgliedstaaten deutliche Kürzungen erzwingen, die sich in
der Sozialpolitik niederschlagen oder Zukunftsinvestitionen in grüne Technologien und die
Digitalisierung behindern könnten. Statt einer Rückkehr zu einer solchen Kürzungspolitik sollte aus
meiner Sicht die gemeinsame Investitionspolitik Europas weiter vorangetrieben werden. Dabei muss
es bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Kern um den Balanceakt zwischen
Haushaltsdisziplin und Zukunftsinvestitionen gehen. Es ist zu begrüßen, dass die spanische
Ratspräsidentschaft angekündigt hat, den Reformprozess des Stabilitäts- und Wachstumspakts weiter
voranzutreiben, mit dem Ziel, noch vor Jahresende zu einem Ergebnis zu kommen.
Europäische Solidarität: Mehr als nur effektives Mittel zur Krisenbekämpfung
Die COVID-19-Pandemie ist so gut wie überwunden, doch der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der
Russischen Föderation auf die Ukraine, die damit einhergehende Energiekrise und der Umgang mit
der Klimakrise sind und bleiben enorme Herausforderungen für uns. Auch diese benötigen ein
abgestimmtes Krisenmanagement und europäische Lösungen, um ihnen wirksam zu begegnen. Doch
europäische Solidarität sollte nicht nur als effektives Mittel zur Krisenbekämpfung verstanden
werden. Auch um unseren eigenen demokratischen, sozialen und ökologischen
Gestaltungsansprüchen gerecht zu werden, braucht es mehr Solidarität. Denn wachsende
Ungleichheit bei Einkommen und erheblich unterschiedliche Standards bei Arbeitsbedingungen
innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten können die soziale Stabilität und demokratische
Legitimation der EU ebenso gefährden wie externe Krisen.
Neun von zehn interviewten Personen in der EU geben in jüngeren Umfragen an, dass für sie ein
soziales Europa wichtig ist. Und 71% der Befragten halten einen Mangel an sozialen Rechten für ein
schwerwiegendes Problem.1 Umso erfreulicher ist, dass Spanien explizit die Stärkung der
europäischen Einheit und die Förderung der sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit als zwei
seiner vier Prioritäten während der Ratspräsidentschaft benennt. Denn es ist klar: Europäische
Solidarität muss auch zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen sowie der
Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen aller Europäer*innen beitragen. Zentral sind dabei
grundlegende gemeinsame europäische Arbeits- und Sozialstandards. Zwar liegen die Kompetenzen
für die Sozialpolitik primär bei den Mitgliedstaaten, doch auf europäischer Ebene können gemeinsame
Mindeststandards vereinbart werden, um unfairen Wettbewerb zulasten der Beschäftigten zu
unterbinden. Ein großer Erfolg war hierbei die Verabschiedung der EU-Mindestlohnrichtlinie im
September 2022, die sowohl Mindeststandards für die Verfahren zu Festsetzung von nationalen
Mindestlöhnen vorgibt als auch die Tarifbindung in den Mitgliedstaaten stärken kann. Faire
Wettbewerbsbedingungen und hohe Arbeits- und Sozialstandards in der EU sind die Grundlage für
den Wohlstand und das Wohlergehen unserer Bürgerinnen und Bürger. Darauf richtet sich die
spanische Ratspräsidentschaft und auch wir werden sie von deutscher Seite dabei tatkräftig
unterstützen.